Der Schrank
Anke stand. Still stand sie da. Aber sie war nicht entspannt, eher gespannt, wachsam, aber auch nervös. Ihr Magen schien sich zusammenzuziehen und sich tief in ihrem Innern verstecken zu wollen. Ihre Muskeln zitterten, so als wollten sie den Körper, zu dem sie gehörten, jeden Moment in Bewegung versetzen. Aber Anke blieb stehen, standhaft setzte sie den Signalen ihres Körpers, die Flucht bedeuteten, ihren Verstand entgegen. Ihr Verstand sagte ihr, sie solle die Signale ihres Körpers ignorieren.
Ihr Blick ging starr geradeaus, heftete sich an das Objekt, das in ihrem Kopf Bilder, Echos von Geräuschen und Gefühlen auslöste. In ihren Gedanken öffnete sich knarrend eine der Schranktüren. Im schummrigen Schein der Glühlampe, die einige Meter entfernt nackt von der Decke des Dachbodens ihres Elternhauses pendelte, bildeten sich vage die Konturen eines Schrankes mit zwei Flügeltüren ab. Die eine Flügeltür öffnete sich langsam und schwarze Finsternis wallte gleich einem dunklen Nebel daraus hervor, der kleinen Anke entgegen. Ihre Beine waren schwer wie Blei, ihre Stimme glich einem Krächzen: „Mami!“. Aber keine Mami konnte sie hören, sie war allein hier oben. Und jetzt - sie meinte in dem schwarzen Nebel etwas bleich, weiß schimmerndes gesehen zu haben? Waren das weiße, lange knochige Finger, die sich ihr entgegenstreckten? Nun geh doch endlich, du dummes kleines Ding! Benutze deine Beine. Da, dahinten ist die Türe, die hinunter führt, in die helle, freundliche Wohnung ihrer Familie, wo ihr Bruder auf sie wartete, um mit ihr zu spielen. Endlich gehorchten ihr ihre Beine wieder, sie rannte zur rettenden Tür des Dachbodens, machte sie auf und trat ins helle Licht des Hauses.
Und nun, 20 Jahre später, stand Anke wieder hier. Aber diesmal würde sie standhaft bleiben. Nein ihr dummen, irrationalen Gefühle, weg mit euch Erinnerungen! Sie besann sich auf ihre Beine, ging dem Schrank entgegen, umfasste fest die Griffe der Türen zog sie auf – und...